
Freund oder Feind? Ein paar prinzipielle Anmerkungen zum sogenannten…
Der ,,innere Kritiker“ ist – wie andere innere ,,Anteile“ auch (,,Kind“, ,,Antreiber“,
,,Rechtmacher“ usw.) – eine Bezeichnung für einen strukturgebundenen Erlebensprozess.
,,Experiencing structure bound in its manner“ bedeutet: ein komplexer innerer Vorgang
(Denken, Fühlen, Wahrnehmung, Handlungsimpuls) folgt einem automatisierten, immer
wieder ähnlichen, sich wiederholenden, gleichförmigen Muster. Für dieses Muster wählen
wir dann (Sprach-)Bilder, die uns die Verständigung erleichtern und vor allem Differenzierung
ermöglichen sollen. Musteraktivitäten finden immer in der Gegenwart – genau jetzt! – statt
(oder eben auch nicht oder kaum). Sie werden durch innere oder äußere Signale in Gang
gesetzt, sind manchmal klar und deutlich erkennbar, oft aber nicht – eher wie eine
Beimischung, ein Unterton, eine Eintrübung des aktuellen Erlebens.
Der automatisierte innere Prozess, den wir ,,innerer Kritiker“ nennen, lässt sich u.a. an
folgenden Phänomenen festmachen: (ver-)urteilende kritische Gedanken über das eigene
Fühlen und Handeln, Verengung der Selbstaufmerksamkeit auf alles, was nicht in Ordnung
ist, Ärger über die eigenen Fehler, über tatsächliches oder vermeintliches Ungenügen und
Versagen. Das kann so weit gehen, dass Selbstverachtung, Selbsthass und das Bedürfnis nach
Selbstvernichtung so stark werden, dass man buchstäblich an sich kein gutes Haar mehr lässt.
Wenn ein solcher ,,Kritiker-Prozess“ abläuft, entdeckt man außerdem andere aktivierte
innere Prozesse (,,Anteile“). Das sind oft verängstigte, schuldbewusste so genannte ,,innere
Kinder“, aber nicht zwangsläufig und nicht immer. Ein (,,animalischer“, lustvoller) lmpuls, ein
eindeutiges erwachsenes ,,Nein“, eine sinnlich-sehnsüchtige Hinbewegung, eine
überpersönliche (,,spirituelle“) Regung von Mitgefühl… – prinzipiell kann jede nur vorstellbare
innere Bewegung ein potentielles ,,Kritiker-Opfer“ sein, nicht nur ein so genanntes ,,inneres
Kind“.
Zusätzlich findet man sehr oft reflexartige Abwehrbewegungen gegen den ,,Kritiker“: Trotz
und Rebellion, aber auch intensive rationale Rechtfertigungsversuche, die die Kritik
widerlegen sollen.
So entfaltet sich ein pepetuum mobile aus Selbstvorwurf (,,innerer Kritiker“), Schuldgefühl
(,, Kritiker-Opfer“) und Abwehr:
…
Man kann getrost davon ausgehen, dass diese inneren Vorgänge erlernt und in neuronalen
Netzwerken im Zwischenhirn gebahnt sind. Niemand kommt mit solchen Mustern zur Welt.
Siehe dazu z.B. die ldeen von Freud über die Entstehung des so genannten Über-lchs oder
die Konzepte der Objekt- und Selbstrepräsentanzen der neueren Psychoanalyse. Es ist auf
jeden Fall sinnvoll, genau zu verstehen, wie und wodurch sich diese Muster geformt haben,
um dann ihre automatische Aktivität im gegenwärtigen Moment besser beobachten zu
lernen:
,,Ah, mein so genannter innerer Kritiker ist jetzt gerade aktiv. Ah, diese kleine Atemnot
und Enge in der Brust. Ah, diese intensiven Bemühungen, das alles rasch
loszuwerden.“
,,Making space“ (Freiraumschaffen) im Focusing bedeutet ja bekanntlich, sich selbst mental,
emotional und körperlich mit einem Zustand zu verbinden, der eine solche Beobachtung
überhaupt erst ermöglicht. lm Bild der inneren Anteile: ,,lch“ habe genug Freiraum, um den
,,inneren Kritiker“ wahrnehmen zu können, und bin gleichzeitig nicht mit dem ,,Opfer“ des
Kritikers identifiziert. Und bin auch nicht mit anderen inneren Anteilen identifiziert, die den
,,Kritiker“ als ,,Gegner“ betrachten und ihn loswerden möchten.
Leider hat das lesenswerte Buch von J. Peichl zu diesem Thema einen unglücklichen Titel (der dann auch im Untertitel gleich relativiert wird): ,,Rote Karte für den inneren Kritiker – wie aus dem ewigen Miesmacher ein Verbündeter wird“ (Kösel 2024, überarbeitete Fassung)
So sind z.B. Suchtprozesse oft als automatisierte Lösungsversuche gegenüber Kritiker
Attacken zu verstehen (,,Das Über-lch ist gut in Alkohol löslich.“)
Psychotherapie, also auch Focusing-Therapie, hat viel mit solchen komplexen
strukturgebundenen Prozessen zu tun. Dabei ist ,,making space“ das A und O: Ohne Freiraum
keine Möglichkeit, sich auf das strukturgebundene ,,experiencing“ innerlich beziehen zu
können – nicht identifiziert und auch nicht abgespalten, sondern bezogen. Oder, anders
gefragt: Kann ich im Freiraum innere Haltungen entwickeln, die es möglich machen, dem so
genannten ,,Kritiker“, seinem ,,Opfer“ und seinem ,,Gegenspieler“ auf eine Art und Weise zu
begegnen, die in guter Weise dem Leben und der Gesundheit dient? Das ist möglich.
Manchmal aber gar nicht so einfach.
Der,,Feind“ im lnneren
Als ich vor mehr als 30 Jahren zum ersten Mal lesend der komplizierten Heilungsgeschichte
einer dissoziativen ldentitätsstörung (DlS) begegnete, war ich tief beeindruckt, wie
verschiedene Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über das Denken, Fühlen
und Handeln eines Menschen übernehmen können, ohne voneinander zu wissen. Aus der
Beschäftigung mit der damals noch ,,multiple Persönlichkeitsstörung“ genannten DIS
entstand das lnteresse, Konzepte kennenzulernen, die die ,,normale“ Multiplizität
strukturgebundener Erlebensphänomene abbilden.
Wer als Psychotherapeut:in mit Überlebenden sexueller; körperlicher und/oder seelischer
Gewalt zu tun hat, kommt nicht daran vorbei, sich auch mit extrem bösartigen Gedanken-,
Gefühls- und Verhaltenszwängen der Klient:innen zu beschäftigen. Der,,Feind“ von damals
sitzt gewissermaßen im ,,System“ der Klient:innen („Täterintrojekt“, ,,Täterimitation“). Und die
Frage ist: Wie lassen sich zerstörerische lmpulse unter Kontrolle bringen und eventuell sogar
nutzen? Michaela Huber fasst in ihrem Buch über den ,,inneren Feind“ die Erfahrungen aus
der Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen zusammen. Focusingtherapeutisch würde
ich sagen; Hier geht es um ,,making space“ an den Stellen, wo ,,der Spaß aufhört“: Wie denkt
dieses ,,innere Monster“? Was will ,,die dunkle Seite“? Wie ,,arbeitet“ der,,Feind im lnnern“?
Letztlich: Wie kann man seine Kooperationsbereitschaft gewinnen, damit er sich vom
Zerstörer in einen inneren Beschützer verwandeln kann, der nicht mehr gewalttätig, aber klar
und sehr kraftvoll agiert? Ein bisschen wie Frau Mahlzahn aus Michael Endes ,,Jim Knopf“, die
sich von einem kinderquälenden Scheusal in einen goldenen Drachen der Weisheit
verwandelt. Als Therapeut:in kann man dieses ,,making space“ nur so weit unterstützen, wie
man mit den eigenen ,,dunklen“ Anteilen einigermaßen im Reinen ist und einigermaßen
furchtlos den machtvollen dunklen Aspekten im Prozess des/der anderen entgegentreten
kann, ohne sich in sinnlosen Kampfhandlungen zu verstricken und ohne zu kneifen.
Sheldon Kopps: ,,Alles Böse ist potentielle Vitalität, du musst es nur umsetzen. Alles an dir ist
etwas wert, wenn du es nur besitzt.“
Der,,innere Kritiker“ als kritischer (!) Freund
Mein gendergerechter innerer Kritiker macht mich darauf aufmerksam, dass die urteilende
innere Stimme in einem kritisierenden strukturgebundenen Erlebensprozess natürlich auch
weiblich sein kann. ,,Kritiker“, auch Täterintrojekte sind keinesfalls ausschließlich Männer.
lch denke z.B. an einen Klienten, der sich {ungern) daran erinnert, wie seine Mutter ihm als
22Jährigen bei einer frechen Bemerkung auf den Mund schlug. Die reale Mutter ist längst
verstorben, spukt aber als lntrojekt in Form extremer Selbstentwertungen weiterhin im
Erlebensprozess des ansonsten sympathischen und tüchtigen Klienten herum, der sich Lauf
der Therapie zögerlich, und von Angst- und Schuldgefühlen begleitet, nun den lmpuls zu
spüren erlaubt, eigentlich zurückschlagen zu wollen.
,,Recognize – allow – investigate – nurture“: Mit dem Akronym ,,RAlN“ skizziert die
buddhistische Lehrerin Tara Brach den Wandlungsprozess, den wir im Focusing mit,,making
space“ (absichtsloses Bemerken, Einverstandensein) und ,,felt sensing“ (unmittelbares,
frisches Bezugnehmen) meinen. Wenn sich der so genannte ,,Kritiker“ dann dadurch
genügend gesehen, verstanden und gewürdigt fühlt, kann er sich in das ,,Konzert der inneren
Anteile“ einfügen. Es mag Momente geben, in denen es sehr wichtig ist, dass sein Scharfsinn
und die Präzision seines Urteilsvermögens die erste Geige spielen. Und es mag Momente
geben, in denen er sich entspannt zurücklehnt und (eventuell sogar schmunzelnd) dabei
zuschaut und zuhört, wie andere auf die Pauke hauen oder in die Piccoloflöte blasen.
Und es mag Momente geben, in denen auch der so genannte ,,innere Kritiker“ einsieht, dass
man ohne ,,Dreck am Stecken“ aus einem Dilemma oder einer Verstrickung oder einer
toxischen Bindung nicht herauskommt. Und dass man mit dem unvermeidlichen Erleben von
Schuld klarkommen kann, wenn man bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Dann ist das
Gewissen ,,erwachsen“ geworden.
Manchmal dauert das ein paar Jahre und erfordert einiges an ,,making space“ und ,,felt
sensing“.
Hans Neidhardt
www.focusing4life.de